Cover
Titel
Göttinger Profile zwischen Aufklärung und Romantik. 41 Silhouetten gesammelt von Gregorius Franz von Berzeviczy in Göttingen 1784-1786


Autor(en)
Wagner, Erika; Joost, Ulrich
Erschienen
Neustadt (Dosse) 2011: Dosse Verlag
Anzahl Seiten
144 S.
Preis
€ 14,90
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Irén Rab, Göttingen

Es ist immer eine Freude für eine Ungarin, im Ausland Publikationen mit ungarischem Bezug in die Hand zu bekommen. Dies gilt auch für den schön gestalteten Band von Erika Wagner und Ulrich Joost, eine populärwissenschaftliche Veröffentlichung, deren Einband viel verspricht: Er zeigt das romantische Schattenbild einer Frau in einem ovalen Rahmen. Beim Durchblättern des Bandes finden sich 41 ganzseitige Zeichnungen, davon 37 Silhouetten, die Schattenbilder von Professoren, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Göttingen lehrten, ihrer Ehefrauen und Töchter sowie vornehmer Studenten – darunter die Portraits einiger Ungarn: der Grafensöhne László und István Teleki, Sándor Podmaniczkys und Gergely Berzeviczys. Das Buch ist besonders für all jene reizvoll, die sich für die frühromantische Epoche interessieren, für die Rolle der Frauen im gesellschaftlichen Leben, für Geschichten über berühmte oder alltägliche Personen. Das war auch das Ziel der Autor/innen, zumindest von Ulrich Joost, der seinen Namen für den Band gab und nur das Nachwort schrieb. Demnach ging es darum, „diese Bilder in einen kultur- und sozialgeschichtlichen Rahmen zu stellen […]. So entstanden viele kleine Miniaturen und unter der Hand sogar eine ‚Chronique scandaleuse de Gottingue‘ der 80er Jahre des 18. Jahrhunderts“.

Die Begeisterung schwindet erst beim Lesen des Textes. Das redaktionelle Prinzip ist kaum erkennbar, die bibliographischen Verweise sind lückenhaft, die Anmerkungen schwierig zu überblicken, und die unzureichende typographische Gliederung erschwert die Orientierung im Text. Hat man diese Hürden überwunden, stoßen sachkundige Leser/innen auf manche inhaltliche Fehler. Das soll im Folgenden anhand einiger Beispiele betrachtet werden.

1. Die Hauptverfasserin Erika Wagner hat die 1897 in Leipzig herausgegebenen Briefe von Gregorius Franz von Berzeviczy als Rahmen für das Buch benutzt. Der junge ungarische Adlige brach 1784 nach Göttingen auf und berichtete in Briefen an die Mutter regelmäßig über seine Erlebnisse. Die Autorin zitiert gelegentlich aus den Briefen, jedoch versteht der Leser oft nicht, warum gerade an der betreffenden Stelle. Wagner gibt zumindest Auskunft darüber, dass Berzeviczy in Göttingen ankam und 1786 seine Europareise fortsetzte. Die sich auf Berzeviczy beziehenden Daten sind, wenn das Zitat nicht gerade aus den Briefen stammt, jedoch voller Fehler. So wird sein Name häufig falsch geschrieben, aber an derartige Mängel ist der Leser deutscher Publikationen gewöhnt, da ungarische Namen nur selten korrekt buchstabiert werden. Kakaslomnic, Berzeviczys Geburtsort, ist als Kaka-Lomnicz aufgeführt, dabei hat die Siedlung auch einen deutschen Namen (Groß Lomniz, Großlomnitz). Ferner war Berzeviczy kein Einzelkind, sondern wuchs mit fünf Halbgeschwistern auf. Auch der Verweis auf die Schulen ist fehlerhaft. Berzeviczy wurde bis zum Alter von 14 Jahren von Hauslehrern erzogen, in Kesmark besuchte er nur die höchste Klasse des Lyceums, sein Jurastudium betrieb er in Pest. Diese Irrtümer sind auch deshalb bedauerlich, weil Berzeviczy zu Beginn des 19. Jahrhunderts seinen Lebenslauf lateinisch und deutsch detailreich niedergeschrieben hat; dabei handelt es sich um leicht zugängliche Quellen. Berzeviczys wissenschaftliches und politisches Werk hat Éva H. Balázs 1967 in einer Monographie zusammengefasst.1 Ein umfangreicher Abschnitt behandelt die Göttinger Studien, und im 150-seitigen Anhang sind Berzeviczys unveröffentlichte lateinische und deutsche Abhandlungen und Briefe zu lesen.

2. Die mangelhafte Quellenkenntnis und der oberflächliche Wissensstand fallen beim Lesen des Buches von Wagner und Joost immer wieder auf, obwohl Berzeviczy sein gesamtes Leben dokumentiert hat, in Briefen, Tagebüchern, Aufzeichnungen und den während seiner Peregrination geführten Stammbüchern. Über letztere schreibt Berzeviczy in seinem in der dritten Person verfassten Lebenslauf: „sein Stammbuch enthält eine seltene Sammlung der ausgezeichnetesten Männer, deren Bekanntschaft und Freundschaft er gemacht hatte.“ Die „seltene Sammlung“ ist Berzeviczys 2008 anlässlich einer Auktion in Frankfurt verschwundenes Stammbuch. Aus diesem Album zitiert auch Wagner, doch von dem anderen, im Göttinger Stadtarchiv (Stabu 90) aufbewahrten und in der Datenbank Inscriptiones Alborum Amicorum (IAA) aufgearbeiteten Stammbuch Berzeviczys weiß sie anscheinend nichts, so wie sie auch über die ebenso zugänglichen Stammbücher von Podmaniczky nur aus der Auswahl Wilhelm Ebels flüchtige Kenntnisse hat.

3. Nicht nur die Berzeviczy betreffenden Angaben sind lücken- oder fehlerhaft. Als Wissenschaftlerin, die sich mit der Epoche beschäftigt, schöpfte ich Verdacht, weshalb ich die Daten zweier Personen stichprobenartig überprüft habe. Der Hungarus Thomas Theophil Riedl aus Preßburg (auch in der vom Autor zitierten Arbeit Erich Ebsteins mit diesem Vornamen) war von Herbst 1785 an Hofmeister der Grafensöhne Teleki und gehörte so zu Berzeviczys engerem Freundeskreis. Das Portrait „Ridels“ im Silhouettenalbum (S. 108) stellt ihn dar und nicht Cornelius Johann Rudolf Ridel. Das gleiche Schattenbild ist im Stammbuch von Rene L. de Chateaubourg, dem französischen Sprachmeister der Georgia Augusta, zu sehen. Chateaubourg schrieb die folgende Anmerkung zu dem Bild: „M/onsieu/r Ridel ancien secretaire du Prince de Kaunitz et Gouverneur de M/onsieu/rs les C/om/tes de Teleky“ (IAA 10533). Es ergeben sich auch biographische Unstimmigkeiten. Laut Wagner war Cornelius Ridel der Hofmeister der Teleki-Söhne und begleitete sie bis nach England, um nach seiner Rückkehr die Ausbildung des Weimarer Thronerben zu übernehmen. Es fällt ihr nicht auf, dass Cornelius Ridel dem Göttinger Logisverzeichnis zufolge anderswo wohnte als seine vermeintlichen Zöglinge, was unvorstellbar wäre. Ein ähnliches Missverständnis findet sich hinsichtlich der Person Dörings. Die Autorin identifiziert das Schattenbild als Georg David Heinrich Döring und teilt auch den Lebenslauf des in Badow geborenen Döring mit. Die Silhouette stellt jedoch fast sicher Carl Gottlieb Döring aus Danzig dar, der sich 1784 an der Göttinger Universität einschrieb und zu Berzeviczys Freundeskreis gehörte. Dies belegen Carl Gottlieb Dörings zwei bekannte Inscriptionen in Berzeviczys bzw. Podmaniczkys Stammbuch (IAA 7440 bzw. 9135).

4. Eine Beschreibung des in Privatbesitz befindlichen Silhouettenalbums lieferte 1921 zuerst der Kunstsammler Erich Ebstein und veröffentlichte darin acht Portraits.2 Den Zeichner der 37 Tusch-Silhouetten in der aus 41 Stücken bestehenden Sammlung konnte Ebstein nicht identifizieren, und auch die Autorin der vorliegenden Veröffentlichung hat sich nicht an dieser Aufgabe versucht. Sie hat keine Kenntnis darüber, dass Martha Küssner, die eine eigene Schattenbildsammlung besitzt, 1976 in ihrem Artikel über die „jungen Damen“ Göttingens fünf Schattenrisse aus Berzeviczys Silhouettenalbum veröffentlicht hat.3 Küssners Kenntnis nach fertigte Berzeviczy selbst die Zeichnungen an, was auch Éva H. Balázs und István Futakys4 Forschungen bestätigen. Berzeviczy war in Göttingen nämlich nicht nur für seine Vornehmheit und seinen Fleiß berühmt. Er hielt sich auch gern bei den Damen auf und wurde zu jeder Gesellschaft mit Freuden eingeladen, weil er schön Violine spielte, gut tanzte und mit Talent zeichnete. Er war einer der bekanntesten Silhouettenmaler. In seinem Album sammelte er mit Sicherheit die selbst angefertigten Schattenbilder. Es wäre lohnenswert, sich mit der Herkunft dieses Albums und der beiden Stammbücher zu beschäftigen. Wie konnten sie aus der sorgfältig bewahrten Berzeviczy-Hinterlassenschaft in den Besitz deutscher Sammler gelangen?

5. Anscheinend hat das als Quelle unzuverlässige Internet als Grundlage für die in der Publikation skizzierten Lebensläufe gedient. Es ist bedauerlich, dass die Autorin die aufgearbeiteten Quellen aus dieser Epoche nicht verwendet: beispielsweise den Katalog der Lichtenberg-Hörer5, der auch über die Lebensläufe der Studenten Angaben macht, oder die bereits erwähnte, frei zugängliche Datenbank der Stammbucheinträge mit Hungarica-Charakter aus dem 16.–18. Jahrhundert.6 Auch die Göttinger Matrikel hat sie nicht konsultiert.

All diese Quellen hätten auch für ein Buch herangezogen werden müssen, das nicht für Fachleute, sondern für eine breitere Leserschaft geschrieben wurde. Der Band ist schließlich die erste vollständige Veröffentlichung einer kulturgeschichtlich wertvollen, in Privatbesitz befindlichen Sammlung, was von den Autor/innen eine erhöhte Sorgfalt bei der Publikationsarbeit verlangt. Der Name Ulrich Joosts, des Leiters der Forschungsstelle Georg Christoph Lichtenberg, bürgt gewöhnlich für wissenschaftliche Zuverlässigkeit, doch bei dieser Veröffentlichung hat sich das leider nicht bestätigt.

Anmerkungen:
1 Éva H. Balázs, Berzeviczy Gergely, a reformpolitikus 1763–1795, Budapest 1967.
2 Erich Ebstein, Ein Silhouettenalbum aus der Göttinger Gesellschaft um 1785, in: Zeitschrift für Bücherfreunde 13 (1921), S. 28–31.
3 Martha Küssner, Alte Silhouetten von Göttinger jungen Damen, in: Göttinger Monatsblätter 28 (1976), S. 1–3.
4 István Futakys, Göttinga. A göttingeni Georg-August-Egyetem magyarországi és erdélyi kapcsolatai a felvilágosodás idején és a reformkor kezdetén, Budapest 2007.
5 Hans-Joachim Heerde, Das Publikum der Physik. Lichtenbergs Hörer, Göttingen 2006.
6 Inscriptiones Alborum Amicorum (IAA), hrsg. v. Miklós Latzkovits, 2003–2015; DOI: 10.14232/iaa <http://iaa.bibl.u-szeged.hu/> (05.11.2015).

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